Jazz Assoziativ
Eine swingende Zufalls-Collage von Bruno Leicht
„We‘re gonna be dancing in the dawn of a new day!“ — Yeah! — Woody Herman singt diesen Blues in der Hoffnung, daß der neue Tag das Glück schon bringen wird: „Die Wolken werden sich verziehen, und wir werden in die Morgenröte des neuen Tages hineintanzen, hallelujah! – Die Schatten des Elends werden verschwunden sein. – Lebt wohl ihr grauen Himmel! – Schaut den Sonnenaufgang, gebt euer Letztes und ruft hurrah!“ — Dann eine swingende Big Band, rollende Saxes und jumpende Brasses und eine euphorische Klarinette, die unbeugsam swingt. Ein kurzes Trompetensolo, ein ebenso kurzes Saxophon-Zwischenspiel, ein virtuos rauschendes Drum-Solo mit der in den Himmel auffahrenden Klarinette und Ende — ein auf Klang reduziertes Stück Film, den heute kaum einer mehr kennt. Eine Nummer, die es in sich hat. Der Film höchstwahrscheinlich nicht. Aber lest selbst nach: Wintertime (1943)
Wintertime? — Never heard of! — Sein Titel klingt eher nach White Christmas — Charlie Spivak & His Orchestra (1942) –, nach Schnulzigem und Seichtem — Siechtum der Seele also. Nicht so Dancing In The Dawn, gespielt von „The Band That Plays The Blues“.
Warum dieser Bandname? — „Weil wir Blues am besten spielen konnten.“ — So einfach war das damals.
Warum hießen Weintraubs Syncopators so? — „Weil wir alle unsere Nachnamen in einen Hut warfen. Danach mußte einer hineinlangen, und dieser Name wurde gezogen.“ — Ein jüdisch klingender Name, eine deutsche Band, mit Juden besetzt. Ab 1933 war Schluß. — Eine wunderbare Band, deren einziger Trompeter mit zwei Trompeten gleichzeitig spielen konnte; und das, noch bevor überhaupt jemand an Clark Terry dachte, der dann einen komischen Dialog daraus machte, ein Zwiegespräch zwischen Harmon-gedämpfter Trompete und offenem Flügelhorn zum Beispiel. Alles vorbei und aus der Traum.
Weintraubs Syncopators mit Friedrich Holländer (Frederick Hollander) — Up And At ‘Em (1928)
Woody Herman & The Band That Plays The Blues — Blues On Parade (1939)
Clark lebt und spielt zwar nach wie vor tapfer sein Horn, mit über 80 Jahren. Aber irgendwann wird auch er gehen müssen. Wie all die anderen Helden vor ihm: Miles, Dizzy, Fats, Brownie, Booker, Lee und Woody — um nur die Genies unter den modernen Jazztrompetern zu nennen, die ihm, dem alten Meister Terry so viel verdanken. Er kann seine Botschaft immer noch an unsere Ohren bringen, und wir können ihm dabei zuschauen, dabei zuhören, wie er stets zwei saubere Chorusse über ein schnelles oder mittelschnelles Stück improvisiert; oder einen Durchgang einer Ballade. Es ist ergreifend; aber es sind nicht die Entschwundenen, die ihren Meister mit ihrem Stil längst übertroffen haben. Wir hören den Lehrer, vermissen jedoch auch und gerade die anderen, die wir nie oder nur gegen Ende ihres Lebens „live on stage“ erleben konnten.
Dennoch tanzen wir in die Morgenröte hinein, verscheuchen die Wolken, legen eine Benny-Goodman-Platte auf und erfreuen uns an den Sounds seiner Klarinette. Wir denken dabei an den Wettstreit der Virtuosen: „The King Of Swing“ (war das nicht eigentlich Louis Armstrong?) — „The King Of Clarinet“ (Okay, Artie Shaw) — Aber die anderen Klarinetten-Kings: Pee Wee Russel, Edmond Hall oder Barney Bigard, nicht zu vergessen den wunderbaren Jimmy Hamilton? –„The King Of Jazz“, Paul Whiteman, war auf jeden Fall alles andere, nur nicht der „Jazz-Köng“ — Und letztlich Woody Herman, der gegen Ende eigentlich kürzer treten wollte, der aber vom US-Finanzamt immer wieder dazu gezwungen wurde, eine Big Band zu leiten.
Er schuldete Geld. Und was schuldeten sie ihm? Er hatte so viel gegeben. Er hatte einen der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts, Igor Strawinsky, mit seinem euphorischen Bandklang dazu inspiriert, ein Stück für sein Jazz Orchester zu komponieren, Ebony Concerto, uraufgeführt von der gefeierten „First Herd“ am 25. März 1946 in der Carnegie Hall, New York. Gemessen an Strawinskys übrigem Werk ein eher mittelmäßiges Stück, gespielt jedoch von einer prachtvollen Band.
The Sidewalks Of Cuba — Woody Herman mit Sonny Berman, Trompete (1946)
Dennoch: Wer diese Band hört, mit ihren klasse Solisten wie Sonny Berman an der Trompete, Eddy Safranski am Baß oder Bill Harris an der Posaune, wer genau hinhört, wird feststellen, daß Dizzy immer über die Schulter schaute. Hier und da eine Wendung, die es ohne Diz nie gegeben hätte. — So what? — Dizzy hatte sicher seinen Spaß an der „First Herd“, die ja trotzdem genug Eigenes besaß. Weniger mochte er die sogenannten „Bebop Gimmicks“ wie Sonnenbrillen, Baskenmützen oder Ziegenbärtchen, die zum Beispiel Gene Krupa seinen Jungs verpasste, nur weil er 1947 ein paar moderne Arrangements von Gerry Mulligan oder Ed Finckel im Programm hatte. (Die Bandsängerin trug natürlich keinen Bart, allerdings ebenfalls Brille und Mütze.)
Dave Lambert & Buddy Stewart with Gene Krupa & His Orchestra (1945) — What’s This? — That’s a Cool Breeze — Dizzy Gillespie & His Orchestra (1947)
Sogar Benny boppte. Lauscht man jedoch seinen Soli und vergleicht sie mit denen von Wardell Gray, Fats Navarro (nur bei einem Stück dabei, Stealin‘ Apples) oder Stan Hasselgard, dem einzigen Klarinettisten, den Benny je an seiner Seite duldete, dann klingen Bennys Chorusse eher notiert denn improvisiert. – Again, so what? – Er phrasiert ausgezeichnet. Und dieses Stealin‘ Apples vom 8. September 1948 ist ein Meisterwerk von nur knapp 3 Minuten:
Stealin’ Apples (1948)
Arties Klarinette war dem neuen Stil schon eher gewachsen. Shaw kann den Intellektuellen nicht verleugnen. Er klingt zwar „studiert“, aber er improvisiert. Im Jahre 1949 leitete er eine letzte bemerkenswerte Big Band, die auf bereits coole Art und Weise boppte:
I Get A Kick Out Of You (1950)
Das Miles Davis Capitol Orchestra hatte zwar noch nicht seine Aufnahmen veröffentlicht, „live“ erleben konnte man die Band jedoch bereits im September 1948. Brilliante Arrangeure wie Gil Evans haben zu allererst mal Ohren; und Claude Thornhills berühmte Aufnahmen schwangen bereits ein Jahr früher über den Äther:
Yardbird Suite (1947)
Er war der Inspirator für Miles‘ Birth Of The Cool, auch wenn Claude selbst am Klavier à la Earl Hines swingte. Artie legte seine Klarinette 1954 für immer weg, was alle bedauern. Er aber, in einem Interview: „Wenn ich nicht aufgehört hätte, wäre ich heute nicht mehr am Leben.“ — Wer könnte ihm seine Entscheidung übelnehmen? — Nun gut, es tauchten schließlich ein paar moderne Klarinettisten auf, die ihm vielleicht vor Ohren hielten, wie „antiquiert“ Artie inzwischen klang (was absolut nicht der Fall war!). Seine Begründung klingt jedoch plausibel.
Little Willie Leaps (2) — Miles Davis (tp), Charlie Parker (ts), John Lewis (p), Nelson Boyd (b), Max Roach (d) (1947)
Moon Dreams — Miles Davis’ Capitol Band (1949)
Dieses Herumreisen von Stadt zu Stadt, sogenannte „One Nighters“, zehrte an den Kräften. Lester Young beschrieb dies in etwa so: „Du kamst in einer Stadt an, bezogst dein Zimmer im Hotel, warfst einen langen Blick auf‘s Bett, spieltest deinen Gig, kamst zurück in dein Zimmer, warfst wieder einen langen Blick auf‘s Bett — und dann ab in den Bus und weiter, in die nächste Stadt.“ Etlichen wurde dieses Reisen zum Verhängnis. Sie wurden gut bezahlt. Da lag es nahe, sich entspannen zu wollen. Der Griff zur Flasche war wohl das Einfachste. Da konnte man sich über den Frust ein wenig hinweghelfen. Vielleicht war man ja nicht „erste Sahne“ unter den Solisten und bekam deswegen nur zufällig mal einen Solo-Part ab. Es ist wirklich deprimierend, wenn man unter all den Stimmen einer Big Band gerade die sinnloseste zu spielen hat und dann nicht mal ein Solo improvisieren darf. Okay, ein Schluck, und hinunter mit dem verletzten Ego!
D. B. Blues (1945)
Oder schlimmer: Man fühlt sich „genial“ (ist es vielleicht auch – siehe Fats Navarro) aber übergangen. Dann setzt sich ein Sonny Berman in seinem jugendlichen Leichtsinn eben einen Schuß und stirbt im Alter von 24 Jahren an einer Luftblase, die er sich zusätzlich zum Stoff in die Vene geschubst hat. Oder Art Pepper, der eines der traurigsten Kapitel der Big Band Geschichte schrieb: Er setzte zwar den klanglichen Maßstab, an dem sich seine Nachfolger in Stan Kentons Orchester, Lee Konitz, Charlie Mariano und dann Lennie Niehaus… (und dann?) … messen lassen mußten; diese konnten jedoch schwerlich die emotionale Tiefe eines Art Pepper erreichen. Sie klangen irgendwie zu „brav“. Das aber ist vielleich auch einer der Gründe dafür, daß sie noch unter uns weilen und ihre Geschichten erzählen können. Lennie schreibt bzw. orchestriert heute Filmmusiken für Clint Eastwood, Lee und Charlie leben als „Elder Statesmen“ des Jazz in Köln. — Und Art? — Art is gone.
Harlem Holiday (1947)
Lee antwortete dem Autoren dieses Textes auf dessen Frage, ob Pepper denn wirklich so gut war: „Depends on what record you listen to.“ — Mariano erzählte einem Freund des Autors: „Pepper? – He isn‘t that good!“ — Ich aber sage euch: „Hört ihm gut zu! Er ist phantastisch, und er wird es bleiben.“ — Sein Ausdruck, dieses manchmal Rauhe, später teilweise vom Geist John Coltranes Durchdrungene, das hat seinen Reiz, auch wenn es unvollkommen, bisweilen sogar unsauber oder eckig klingen mag. Selbst dann, wenn manche seiner Soli schon aufgrund ihrer extremen Länge zu entgleiten drohen: Es ist immer ein Abenteuer, Art Pepper zu lauschen.
Sein Why Are We Afraid? auf der Platte Gettin‘ Together, gespielt im Quartett mit Wynton Kelly, Paul Chambers und Jimmy Cobb (Miles Davis 1960er Rhythmusgruppe), ist eine der schönsten Balladen des Jazz. Trotzdem: Er konnte leider auch zum rücksichtslosen Kriminellen mutieren, der Geschäfte ausraubte, wenn er Geld für Stoff brauchte. Eine tragische Figur. Eine wie so viele jener wilden Musik, „Jazz“ genannt.
Jolly Rogers (1947)
Ich komme zum Schluß. — Warum dieser Text? — Es ist mein Bedürfnis, dem noch Unwissenden einen kleinen Ruck zu geben, sich Kenntnis zu verschaffen. Und es soll ein kleiner Hinweis darauf sein, daß alles mit allem zusammenhängt. „Die Ideen flogen hin und her.“ So sagte einmal ein amerikanischer Big Band Historiker. Öfters blieb es wirklich im Ungewissen, wer was erfunden hatte, wer welche Wendung und welchen Trick zuerst gebraucht hatte. Ich selbst, ein großer Dizzy-Gillespie-Ergebener, traute meinen Ohren nicht, als ich auf einer Schallplatte hören „mußte“, wie Oran „Hot Lips“ Page eine Formulierung wählte, die ich eigentlich Dizzy zugeschrieben hatte, und das 1940, sechs (!) Jahre vor Dizzys endgültigem Durchbruch:
I Got Rhythm mit Oran “Hot Lips” Page, Herbie Fields am Tenorsax und Donald Lambert an den 88 Tasten. Aufgenommen wurde dieses grandiose, frei schwingende I Got Rhythm während einer Jam Session in Jerry Newmans Appartement irgendwann im Jahre 1940 (Ich werde diesen Track später nochmal extra posten und näher darauf eingehen).
Hier nun die spezielle Phrase, von der ich immer dachte, Dizzy hätte sie “erfunden”:
One Bass Hit — Part 1 & Part 2, beide Takes sind aus dem Jahre 1946, einmal mit einer Small Band, dann mit Dizzys Big Band. Ray Brown ist der Mann am Kontrabass, Milt Jackson spielt Vibraphon und Kenny Clarke bearbeitet die Trommelfelle. — Da wir in einer so schnellen Welt leben, sage ich euch nicht an welcher Stelle genau dieses Zitat zu finden ist. — Jedenfalls wünsche ich euch viel Geduld und Vergnügen beim Vergleichen.